Da war doch noch was

Die Anhänger des klassischen Stils sind entweder Fans des Brit-Looks oder aber des italienischen Stils. Dies erweckt den Eindruck, dass nur diese beiden Provenienzen zeitloser Schneiderkunst existieren. Dabei verdienen es mindestens zwei weitere Länder, als Ursprung ganz eigener Looks genauer betrachtet zu werden. Richten wir also unseren Blick über den Atlantik.

Die USA sind ein klassisches Einwanderungsland und Schmelztiegel zahlreicher Kulturen, gleichzeitig haben sich dort aber nationale und ethnische Besonderheiten unverfälschter erhalten als im modernen Europa. Deshalb kann man sich auch heute noch in New York City einen echt italienischen Anzug nähen zu lassen, von Handwerkern, die ihre Kunst noch in Europa gelernt haben. Und mit etwas Glück trifft man vielleicht auf den einen oder anderen Großstückschneider, der einst für Knize in Wien gearbeitet hat. Doch die USA hat auch einen ganz eigenen Stil zu bieten, der zwar von britischer Sportlichkeit inspiriert, ansonsten aber durch und durch amerikanisch ist – nämlich den so genannten „Ivy-League-Look“, einer Moderichtung, die im frühen 20. Jahrhundert von den Schneidern der Elite-Universitätsstädten an der Ostküste entwickelt wurde. Der Schnitt dieses Stil lässt sich auf den ersten Blick an der runden Naturschulter, dem Mittelschlitz des Sakkos und dem umgebügelten obersten Knopfloch der Dreiknopf-Jacke erkennen. Diese Linie ist auch als „Sack-Suit“ geläufig, was als „Sack-Anzug“ übersetzt wird, eigentlich aber nichts anderes bedeutet als „Sakko-Anzug“. Und das Sakko des späten 19. Jahrhunderts zeichnete sich, anders als das mit einer akzentuierten Schulterlinie ausgestattete Frack-Jackett, durch eine runde, abfallende Achsel aus. Sie verleiht dem typischen US-Anzug seine lässige Note, die sich von der strengen Eleganz Kontinentaleuropas genauso absetzt wie von der taillierten Silhouette des britischen Reitjacketts.

Wenn wir nach Europa zurückkehren, lohnt sich eine sartoriale „Tour de France“. Doch während beim Stichwort Savile Row sofort das Bild einer karierten Sportjacke vor dem inneren Auge auftaucht, und beim Begriff Neapel das eines leichten Leinenanzugs, bietet der Name der französischen Hauptstadt kaum Anlass für modische Assoziationen. Tatsächlich ist der französische Schneiderstil wesentlich weniger klar zu definieren als die britischen oder die italienischen Looks. Das liegt ganz einfach daran, dass Frankreich auf der einen Seite, wie Italien, ein romanisches Land ist, auf der anderen Seite aber auch die Verwandtschaft zu den Briten pflegt. So gesehen lässt sich der französische Stil als die romanisch angehauchte Version der englischen Schneiderei definieren oder, umgekehrt, als die britische Ausgabe der lateinischen Sartoria. Dennoch entdecken wir bei genauerem Hinsehen typisch französische Eigenheiten, die das Erzeugnis eines Schneiders aus Paris sofort von dem eines Römers oder Londoners unterscheidbar machen. So erfreut sich z. B. das gebrochene C-Fasson größerer Beliebtheit als in Italien während das Knopfloch im Aufschlag – anders als bei den Briten üblich – nach kontinentaleuropäischer Tradition relativ klein dimensioniert ist und mit Auge gearbeitet wird. Bei doppelreihigen Modellen legt es der französische Schneider darauf an, möglichst viel Hemdbrust freizulegen, deshalb wird gern mit Abnähern unter dem Fasson gearbeitet.

Bernhard Roetzel

Kategorie: Magazin

Bernhard Roetzel

Bernhard Roetzel schreibt über Herrenmode und verschiedene Stilfragen. Der Bildband "Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode" ist seine bekannteste Publikation, sie liegt in fast 20 Übersetzungen vor.

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