Phänomenal saisonal

Tweedjacke und Flanellhose im Winter, Leinenanzug im Sommer — dieses von mir fast selbstverständlich propagierte Garderobenmodell hat mit dem, was viele unserer Leser täglich tragen, oder tragen müssen, oft wenig zu tun. Die meisten berufstätigen Männer tragen das ganze Jahr über gleiche, mittelschwere oder mittelwarme Kleidung. Ein grauer Schurwollanzug mit einem Gewebegewicht von 250 Gramm kann im heißesten Sommer gerade noch so am Leib ertragen werden und im kältesten Winter mit einem Mantel darüber auch akzeptabel warm halten. Klimatisierte Büroräume und kurze Fußwege tun ein übriges zu diesem zweckmäßigen Look.

Die Sache hat allerdings auch ihre Nachteile. Zum einen kann ein Anzug, der einen Kompromiss aus zwei Klima-Extremen bedient, eigentlich nur in einer sehr kurzen Spanne des Jahres sein volles Potential entfalten. Die restlichen, entweder sehr warmen oder sehr kalten Tage fristet er am Körper des Trägers mit dem Prädikat „geht so“. Saisonale Garderobe kann hier also wertvolle, weil tragbarere und langfristige, Dienste leisten. Zum anderen wird es nach einiger Zeit schlichtweg langweilig, tagein, tagaus dieselben Stoffqualitäten und Webarten zu tragen. Saisonale Garderobe lebt von der Abwechslung.

Den Reiz von Sommergarderobe macht, neben ihrer Leichtigkeit, ja gerade das trockene und frische Tragegefühl eines kernigen Frescos, die unnachahmliche Lässigkeit eines Leinenstoffes aus. Umgekehrt lebt Winterkleidung nicht nur von ihren gedeckten Farben, sondern unbedingt auch von den haptischen Eigenschaften von Flanell, Lanella und Co. Saisonale Abwechslung bringt somit ein Heilmittel gegen öde Kleiderschränke mit sich und hilft uns, deren Inhalt alle sechs Monate neu erleben zu können. Klingt doch gleich besser, als 365 Tage Einheitsgrau, oder?

Wenn Sie also das nächste mal bei Ihrem liebsten Herrenausstatter vor dem Anzugregal stehen, riskieren Sie ruhig den einen oder anderen Blick links und rechts des grauen Standardangebots. Fragen Sie nach dem Flanellanzug, den der Verkäufer so schön findet, den ihm aber heutzutage niemand mehr abkaufen möchte oder ihrem Lieblingsschnitt auch einmal in hellem Leinen — ich verspreche Ihnen: es wird sich lohnen.

Kategorie: Magazin

Florian S. Küblbeck

Florian S. Küblbeck ist freier Journalist und schreibt vor allem über Mode, Stil und Genuss. Mit seinem Erstwerk "Was Mann trägt: Gut angezogen in zwölf Schritten" gab er 2013 sein Debüt als Buchautor.

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