bluesman528
Ruhrpotthanseat
Also mein Schneider kommt ganz gut klar. Im Moment haben wir mehrere globale Krisen parallel, Corona, Ukraine-Krieg, globale Inflation nach Corona und energiegetrieben als Kriegsfolge. Da ist jeder Konsum tendenziell unter Druck, weil das Disposable Income zurückgeht und die individuelle weltweite Mobilität immer noch eingeschränkt ist. Daniel Craig habe ich letztens auf Instagram auch in einem wunderschönen Anderson&Sheppard-Kreidestreifen-Zweireiher gesehen, auch ohne dass er Bond spielt. Bisher hatte ich ihn nur in überteuertem Tom-Ford- und Brunello-Cucinelli-Kram gesehen. Selbst Medien-Promis sind also lernfähig.Sie haben mein "peinlich" schön umschrieben
Trotzdem beschönigen Sie das Problem. Die Gruppe derjenigen, die "Rötzel" trägt, wird immer kleiner. Maßhemdenhersteller und gute Schneider werden weniger, haben finanzielle Probleme. Obwohl gleichzeitig die Gruppe derer, die sich "Rötzel-gemäße" Kleidung leisten könnten, immer größer wird.
Dass New-Economy- und Bitcoin-Neureiche mit dieser Form von Kleidung nichts anfangen können, ist ja nicht weiter schlimm. Jeder, wie er möchte, Hippies fanden Anzüge auch blöd.
Möglich, aber war das denn 1999, als Roetzel seinen Gentleman schrieb, wirklich anders? Wenn das da jeder getragen und das Wissen darum gehabt hätte, wäre sein Buch völlig sinnlos gewesen. Jetzt aufzuwachen und festzustellen, dass Studenten viel mehr Jeans tragen als Krawatten, ist ein bisschen spät. Sartoriale Kleidung war seit den 1970er Jahren immer nur in bestimmten, eng umgrenzten Bevölkerungsteilen wirklich populär.Wird der "Rötzel-Träger" evtl. nicht von einer immer größeren Bevölkerungsgruppe immer mehr als verschrobener, aus der Zeit geratener Exot angesehen?
Aber solange der Tagesschau-Sprecher Anzug und Krawatte trägt, weiß jeder, was das ist, auch wenn er es selbst nicht trägt. Seit dieses Forum existiert, reden wir darüber, dass das, was wir hier in unserer sozialen Blase tragen, nicht jeder auf der Straße trägt. Und selbst hier waren wir immer bei genauerem Hinsehen in zahlreiche verschiedene Gruppen zersplittert, die nur ein allgemeines Eleganzbedürfnis verband. Damit kann ich auch weiter gut leben.
Ich glaube, dass jemand, der sich um einen guten Kleidungsstil bemüht, kein Problem damit hat, dass ihn das visuell von anderen, die dieses Bedürfnis nicht haben, abheben wird. Es wird sogar nicht wenige geben, für die das der wesentliche Grund ist, das zu tun. Warum muss man sich dann wider besseres Wissen und eigenen Wunsch an Leute visuell anbiedern, die das gar nicht interessiert? Mal davon abgesehen, dass es auch nicht funktionieren wird.Und da stellt sich für mich die Frage, ob Mann - um guten, zeitgemäßen Kleidungsstil bemüht - sich nicht grundsätzlichen aktuellen Trends anpassen muss. Wie z.B. das Tragen von Hemd/Sakko ohne Krawatte. Oder wie das Tragen von weißen Sneakern zum dunklen Anzug.
(Anm.: Ich nutzte den Begriff "Rötzel" im Sinne eines bekannten, guten, alten, zeitlosen, konservativen Kleidungsstils.)
Stellen Sie (ich bleibe mal beim von Ihnen vorgeschlagenen Sie) sich selbst in einem dunklen, gedeckten Anzug mit weißen Sneakers vor und dann beurteilen Sie, ob das wirklich Sie angemessen repräsentiert und evtl. sogar "modisch" aussehen lässt. Ich denke nicht, dass Sie zu diesem Schluss kommen. Und darum geht es doch bei bewusstem Kleidungsenthusiasmus: sich selbst adäquat durch Kleidung auszudrücken. Das geht nicht ohne die Möglichkeit, bei irgendwem damit anzuecken, das ist so mit bewussten Richtungsentscheidungen. Sartoriale Kleidung polarisiert, seit sie nicht mehr jeder trägt, was schon gut 50 Jahre zurückliegt. Aber das heißt nicht, dass sie nicht mehr relevant wäre, nur weil irgendein High-Street-Shop das nicht mehr propagiert oder irgendwer, der sie nur wegen eines jetzt verschwundenen Büro-Dresscodes getragen hat, dessen müde geworden ist. Sie ist relevant, solange kreative Leute interessante Stoffe kreieren und Handwerker und Retailer daraus interessante Anzüge, Sakkos und Hosen machen. Auch neue Krawatten kommen immer wieder heraus.
Aber ja, das ist natürlich nur in unserer Blase sichtbar und jenseits davon fast unbekannt wie bei anderen gegenwärtigen, parallel existierenden Kleidungsformen auch. Mir ist natürlich völlig klar, dass sich viele Leute nicht um einen guten eigenen Kleidungsstil bemühen, sondern nur versuchen, unauffällig auf höherem Niveau mit der Masse mitzuschwimmen. Die hätten aber auch nach Lektüre von Roetzels Gentleman 1999 keine "langweilig-altväterlichen" Marinella-Krawatten und Barbour-Jacken getragen.
Nette Diskussion übrigens. Wie in alten Zeiten.