klassiche Herrenmode - die Liste des Schreckens

Liebe Forenkollegen,

ich habe den Faden hier zufällig entdeckt und dies zum Anlass genommen, mich mal im Forum zu registrieren. Seit Jahrzehnten interessiere ich mich für Herrenkleidung und -schuhe (und vieles, was schön ist) und habe im fortgeschrittenen Alter manch eigenes Loriot-Erlebnis bei der Beratung in Modehäusern hinter mir (Ihr wisst schon: „Man trägt die Hose dieses Jahr etwas länger“).

Mein ungewolltes „Lieblings“thema ist die so genannte „Shrinkflation“, die auch schon länger (oft unbemerkt) im Bereich der Herrenkleidung Einzug gehalten hat. Ja, genau, der aus dem Bereich Lebensmittel bekannte Effekt: Gleiche Verpackung und Preis, aber weniger Inhalt. Quasi die versteckte Preiserhöhung oder Kostensenkung oder Kundenverar… Das fing schon bei Schuhen an, deren Oberleder immer minderwertiger, deren Ledersohlen oft gegen Kunststoffsohlen ausgetauscht wurden und deren Absätze immer häufiger aus Plastik waren.

Aber wieso bei Herrenkleidung? Das Ganze begann mich aufzuregen, als es kaum noch Herrenhosen gab, also solche mit relativ hohem Bund, man fühlte sich angezogen und die Hose saß. Die Logik der Herrenhose war, den Schließbund weiter oben zu positionieren. Darunter wird es oft etwas fülliger, die Hose etwas weiter, so dass die (echte) Herrenhose von allein saß, Gürtel, Hosenträger waren im Grunde (außer als Accessoire) entbehrlich.

Irgendwann hatte jemand (vermutlich die Krankheit des 21. Jahrhunderts, Controller genannt) die Idee, den Bund runterzusetzen, das spart Stoff. Die Hosen wurden oben immer kürzer. Das führte nicht nur dazu, dass sie von nun an schlecht saßen und häufig rutschten. Logisch, da sie nunmehr an der breitesten Stelle der Taille saßen (blöde Idee eigentlich). Es sah zudem gruselig aus, das Hemd rutschte ebenfalls, nämlich oben aus der Hose heraus und war unterhalb der Sakkoknöpfe zu sehen. Die oben kürzeren Hosen wurden uns als „Mode“ verkauft“, wahrer Grund war natürlich, dass man nicht unerheblich Stoff spart. Früher wanderten Moden ping-pong-artig (mal lang, mal kurz), die Hosen sind aber bis heute im Bund kurz, denn: Wer verschwendet schon freiwillig mehr Stoff?. Meine Hoffnung, endlich mal wieder eine Herrenhose kaufen zu können, ist verflogen, in den Firmen haben heute die Controller vor den Designern das Sagen.

Aus demselben Grund haben wir seit Jahren schmale Krawatten. Früher wechselte schmal mit mittel mit breit und zurück. Seit gefühlt 20 Jahren bleibt es konstant schmal (und Hemdkragen überwiegend klein). Genau: Wer verschwendet schon freiwillig mehr Seide? Man kann keine schönen Knoten mehr binden und schon gar keine schöne Falte mehr unterhalb des Knotens in die Krawatte einbringen.

Der Gipfel dieser Materialersparnis wurde uns vor einigen Jahren serviert, als man die Sakkos unten deutlich kürzte, gern kombiniert mit "Superslim" und überkurzen Ärmeln (Loriot würde sagen: „Das trägt man jetzt so“). Richtig erkannt! Wieder eine enorme Materialersparnis, die dem dummen Kunden, dem man alles verkaufen kann, erneut als „Mode“ offeriert wurde. Dies nun sieht m. E. maximal albern aus. Die dynamischen jungen Verkäufer bei Pe.. & Clo… sehen damit aus, als würden sie den Konfirmationsanzug ihres kleinen Bruders auftragen. Gerade kleinere Moderatoren im TV in Ganzkörpersicht wirken oft unfreiwillig komisch mit ihren kurzen Sakko-Schößchen, man kann nur den Kopf schütteln, was Menschen alles mit sich machen lassen.

Ich kann nur jeden mit Sinn für Formen und Proportionen bitten mitzuwirken, diesen Unsinn in den Regalen hängen zu lassen und in Gesprächen mit Verkäufern darauf hinzuweisen, dass man den wahren Grund der „Mode“ erkannt habe, das Ganze gruselig finde und die Firma gern den Kram behalten könne bis sich die „Mode“ wieder ändere.

Beste Grüße *zwinker*

Reinhard
 
Lustig, wenn man sich mal die ersten Posts dieses Fadens anschaut. Dort wird vieles verrissen, was derzeit gepriesen wird.
Offenbar unterliegt auch das Stilmagazin dem Wandel der Zeit :D
Die Klage über schlimm fit ist zwar berechtigt, aber mittlerweile auch schon fast ein bisschen überholt. Selbst die mainstream Mode wird ja derzeit wieder weiter.
 
… Selbst die mainstream Mode wird ja derzeit wieder weiter.
Die aktuelle Mode konterkariert ja Reinhards These, demnach es der Modeindustrie lediglich um Materialeinsparungen geht vollends. Ohnehin, schaut man sich die Entwicklung der klassischen Moden über das letzte Jahrhundert hinweg an, sollte einem der stetige Wandel augenscheinlich werden. Und dass die Krawatte zuletzt wenig Veränderung hinsichtlich der Breiten erfahren hat, dürfte bei diesem aussterbenden Accessoires nun wirklich nicht verwundern.
 
Im Übrigen sehe ich beim Blick auf meinen persönlichen Zeitgeschmack ebenso einen Wandel. Vor 10, 15 Jahren trug ich noch Full-Brogues, jetzt stehen die rum. Loafer und Splittoe habe ich vor 20 Jahren überhaupt nicht getragen, Opaschuhe. Jetzt liebe ich sie. Dufflecoats waren für mich lange Zeit das Sinnbild des Geografie- und Geschichtslehrers. So wollte ich nicht aussehen, jetzt sehe ich so aus.
 
Das wirkt schon ein wenig paranoid. Obwohl ich durchaus der Meinung bin, zu viele Sachen (auch Kleidung) werden heute von Betriebswirten gemacht, nicht von Ingenieuren, Schneidern, Chemikern oder Köchen. Betriebswirtschaft ist sicher der einzige Studiengang, wo man systematisch lernt, die Welt schrittweise mieser zu machen. ;)


Dennoch, dass es schmale Krawatten aus dem einen Grund gibt, um Stoff zu sparen halte ich für Unsinn. Ich persönlich sehe auch meinen stattlichen Bauch gern das Hemd wölben, nicht die Hose. Das ist aber Geschmackssache. Was wiederum bedeutet, auch das halte ich für allenfalls in 3. Linie "optimierungsbedingt".


Also, grundsätzlich denke ich, da ist schon was dran. Dass dieses Motiv aber die treibende, dominierende Kraft hinter allem und jedem ist, find ich reichlich überzogen.
 
@Reinhard du hast mit deinen Beobachtungen sehr viel wahres angesprochen. Die Wurzel des slim fit und der kurzen Sakkos ist aber eher bei den Designern wie Hedi Slimane anzuordnen. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Modeindustrie ihre Chance gesehen hat, es sei zu ihrem Vorteil zu nutzen, wie du es beschrieben hast.
 
Herzlich willkommen @Reinhard
Bei allem nachvollziehbarem Frust über Mode und Zeitgeist, der hier auch von vielen geteilt wird, aber daß Betriebswirte Modetrends kreieren halte ich für etwas weit hergeholt.
Der Trend ist der Trend, er wird von Designern aufgegriffen, entwickelt, befördert - und manchmal vielleicht auch kreiert.
Daß Betriebswirte Produkte optimieren, ist schlicht deren Job.
Aber niemand kann sich gegen den Trend stemmen, ökonomisch jedenfalls.
(Modisch natürlich schon wie man hier sehen kann.).
 
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