Mode - Fluch der guten Herrenkleidung

Für gentlemen gibt es die rules, die man auswendig lernen und beherzigen kann.
Als eine Art von „Grundausbildung“ halte ich das nach wie vor nicht nur im sartorialen Bereich für nicht grundsätzlich falsch. Nur wer ein Regelwerk gründlich beherrscht, ist in der Lage zu unterscheiden, bei welchen Gelegenheiten in welcher Art und Weise und in welchem Umfang aus ihm „ausgebrochen“ werden kann, ohne dass sich eventuelle Missbilligung in (empfindlichen) Sanktionen niederschlägt. Es hat ja auch kein Caruso mit „E lucevan le stelle“ angefangen, sondern erst einmal die Grundlagen der Gesangstechnik gemeistert.
Denkt man in ästhetischen Kategorien, könnte man die gekonnte Befolgung sartorialer Regeln und den ebenso gekonnten gezielten Verstoß gegen sie mit den Stilen Berninis und Borrominis vergleichen. Spaßeshalber könnte man Phänomene wie Sprezzatura, Quiet Luxury o.ä. mit Begriffen der Intertextualitätstheorie zu beschreiben versuchen, aber das würde an dieser Stelle wohl ein wenig zu weit führen.
 
Ob sich jetzt jemand erhaben fühlt, weil er einen Anzug trägt, lasse ich mal dahingestellt. Diese Unterstellung erwartet man eher von Nicht-Anzugträgern, Leute, die in „Die da oben“-Kategorien denken. ;)

Aber ich glaube, Du vernachlässigst einen ganz wesentlichen Punkt: Sartoriale Herrenbekleidung ist viel älter als Mode in ihrer neuzeitlichen Breitenwirkung. Das ist auch das Geheimnis, warum sie so lange vergleichsweise unverändert Bestand hatte. Mode ist ein als solches vermarktetes Amalgam regionsübergreifender Designtrends von Kleidung und damit ohne Marketing, moderne Massenmedien und einer Demokratisierung von Konsum in breiten Bevölkerungsschichten undenkbar. D.h., eine auch als solche großflächig wahrgenommene Kleidungsmode konnte sich erst nach dem 1. Weltkrieg als zartes Pflänzchen in kleinen wohlhabenden gesellschaftlichen Gruppen etablieren und gewann erst nach dem 2. Weltkrieg in breiteren Gesellschaftsschichten an Fahrt. Da war der Anzug als Konzept längst seit vielen Jahrzehnten gestalterisch ausentwickelt und zwar von regionalen Gruppen von Maßschneidern, nicht von Konzernen, Werbeindustrie oder „Designern“.

Die Versuche der Konfektionsindustrie, sartoriale Kleidung in Mode zu überführen, um damit mehr Nachfrage durch künstliche visuelle Alterung von Konsumentenbeständen zu erzeugen, kann man ja nur als relativ hilflos bezeichnen. ;) Den Gestaltungskern davon hat es nie berührt, man hat nur an ein paar oberflächlichen Stellschrauben gedreht wie Reversbreite, Kassurhöhe, Saumweite, Leibhöhe, Dinge also, die Maßschneider schon immer variiert haben, um die Körperform ihrer Kunden ansprechender äußerlich abzubilden. Teilweise hat man auch bei den Konfektionsangeboten einfach die Passform künstlich versaut, durch zu weite Schultern (1980er) oder zu engen und zu kurzen Torso (2010er), je nach Epoche. ;)

An der größeren Unabhängigheit von Moden bei sartorialer Kleidung ist also schon was dran. Ist es deswegen ein überlegenes Konzept? Das hängt maßgeblich vom eigenen Standpunkt ab, aber in einem Zeitalter, in dem wir über mehr Nachhaltigkeit in der Kleidung nachdenken, finde ich es zumindest erschreckend aktuell.

Wenn man Mode als reines Konsum-Konstrukt sieht und nicht das Design dahinter, magst du mit deinem Post recht haben.

Ich sehe in Mode aber auch etwas kreatives, schaffendes. So wie bei Architektur. Es ist also nicht minderwertig wenn man mit Proportionen spielt, nicht nur um seinen unförmigen Körper zu kaschieren, sondern im visuell etwas Interessantes zu erschaffen. Dein Mantra "es gibt nur eine Passform: die, die passt" teile ich daher nicht.
 
Von wegen neuzeitliche Breitenwirkung - noch bis weit in die 60er Jahre trug Mann in Deutschland selbstverständlich jeden Tag Anzug. Mein einer Großvater blieb lebenslänglich dabei.

Die historische Neuzeit beginnt etwa 400 Jahre vorher :D
 
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