Die Garderobe eines Gentleman mit dem Geld eines Bettlers?

Vielleicht noch mal einige, ganz andere und unsortierte Gedanken zu dem Thema (aus eigener, schmerzlicher Erfahrung). Es geht imho gar nicht so sehr darum, dass "günstigste" Teil zu finden. Es geht darum, eine "günstige" Strategie zu entwickeln.

1. Besonders "teuer" sind Fehlkäufe

Ich habe viele "günstige" Versuche (second hand, mittelmässiges MTM, vom Änderungsschneider nicht mehr zu rettendes RTW, stilistische Fehlgriffe aufgrund eines scheinbaren Schnäppchens usw. usw.) nachträglich sehr bereut und trage die heute ausnahmslos nicht mehr.

Es ist sehr wichtig, früh eine klare "Kauf-Liste" an notwendigen Teilen zu erarbeiten und die dann in einer sinnvollen Reihenfolge abzuarbeiten.

Das muss jeder für sich individuell machen, aber da gibt es ja auch in den Foren und in der Literatur genug Hilfestellung.

"Geld sparen" fängt damit an, dass man danach erst mal nur Artikel auf dieser Liste erwirbt - und jeweils in einer Qualität, dass man die danach auch anziehen kann und will. Das bedeutet insbesondere bei den Schuhen, dass man trotzdem viel Geld ausgeben muss und möglicherweise erst mal ein Jahr mit 2 Paar Schuhen bestreiten muss.

Genauso hat man eben erst mal nur 2 passable Anzüge (blau und grau) und einige, wenige (langweilige) Hemden.

Wenn ich zusammenrechnen würde, wieviel "Fehlkäufe" ich in den letzten 6 Jahren getätigt habe, komme ich sicher auf die Summe von 1-2 Maßanzügen (bespoke, that is) - von denen ich immer der Meinung war, sie mir nicht leisten zu können.

2. RTW oder nicht

Der größte "Hebel" am Anfang ist sicher die Frage, ob man mit einigen Änderungen in viele RTW Stücke hineinpasst oder nicht. Falls nicht, sollte man mit Rücksicht auf "Fehlkäufe" (siehe oben), dass schnell einsehen und es nicht immer wieder aufs neue probieren. Ich habe das insbesondere bei Hemden leider immer wieder versucht und habe sehr viel "Lehrgeld" bezahlt.

Auch viele Fehler beim "billigen" second hand ergeben am Schluß viel aus dem Fenster geworfenes Geld. Ich muss nur in meinen Schrank schauen. ;(

3. Prioritäten
Es wird ja immer wieder überall beschrieben - und trotzdem von fast allen missachtet: Man sollte die richtigen Prioritäten setzen. Beispiele:

Es gibt keine sinnvollen "billigen" Schuhe! Schuhe sind das wichtigste Baustein in einer Gaderobe und hier sollte man gleich richtig einkaufen. Mit Loake oder C&J gibt es gute "Einstiegsmodelle" - aber wenn einem ein Edward Green besser passt - dann muss man eben etwas mehr ausgeben. Anderseits "braucht" man sicher nicht mehr als 4 Paar Schuhe um über Jahre zu fast allen Gelegenheiten passendes Schuhwerk zu besitzen. Fast alle Leute die ich kenne kaufen zu modische, zu schlechte Schuhe (ich nenne mal exemplarisch Boss) - um diese dann nach 1-2 Jahren wegzuwerfen. Das ist sehr teuer.

Gute, passende Hemden sind bezahlbar und wichtig (man braucht am Anfang auch nicht 15, man kann auch mit 5 Hemden sein Leben bestreiten). Die Kombination Krawatte/Hemdkragen hat oft einen viel wesentlicheren Einfluß auf die "Qualität" eines Outfits als z. B. der Stoff des Anzugs.

Anzüge sind am Anfang nicht ganz so entscheidend - so lange die gut passen. Ich sehe immer wieder Kollegen, die gleich zu Beginn sehr hochwertige, auffällige Anzüge kaufen (die dann nicht passen). Das ist teuer. Lieber erst mal 2 günstige, passende Anzüge (selbst wenn es dann Kuhn oder ähnliches sein muss) - und sichere Standards wählen (blau, charcoal) - und erst mal die Schuhe, die Hemden und Krawatten vervollständigen. Ein paar gut gewählte Accessoires und gute Schuhe bleiben viel eher beim geneigten Betrachter "hängen" als ein Zegna-Stoff beim schlecht passenden Anzug.

Hohe "Kombinierbarkeit"
Es empfiehlt sich am Anfang Teile zu wählen, die sehr vielseitig einsetzbar sind. Besondere "modische" Farben, extreme patterns, besonders auffällige Details (hacking pockets, ticket pockets) schränken alle im Zweifel die Kombinierbarkeit ein.

Weiße und hellblaue Hemden sind kombinierbarer als ein Gingham in lila. Ein grauer Grenadine tie oder ein navy Oxfort tie sind vielseitiger als andere, auffälligere Modelle. Das gleiche gilt insbesondere für Schuhe! Braune Schuhe sind fast immer kombinierbarer als schwarze (Business und Casual).

Ein Hemd mit barrel cuff ist auf in der Freizeit zu tragen - french cuffs sind in der Freizeit meistens eher ungeeignet...

Man kann seinen blauen Anzug z. B. mit patch pockets wählen und hat dann gleich eine potentiellen Blazer http://www.styleforum.net/showthread.php?t=71198 - finde ich eine ganz gute Idee. Man kann auch sicher die Hose eines grauen Anzugs zu sport jacket tragen.

Fazit

Ich denke die große Herausforderung bei beschränktem Budget (und da unterscheidet sind meine Situation als junger Familienvater sicher nur marginal von der eines Studenten) ist folgende:
Viele "günstige" Entscheidungen bedeuten einen hohen "cash out" am Anfang. Man kauft viele Teile für die nächsten 10-20 Jahre und das passt nicht zum aktuellen cash flow. Trotzdem ist es KEINE sinnvolle Alternative viele "teure" Entscheidungen zu treffen (Boss-Schuhe die nicht halten, H&M Anzüge die nicht passen etc.), die mittelfristig deutlich teurer und unbefriedigender sind.

Ich glaube eine Lösung besteht in einer intelligenten "Beschränkung" auf das Wesentliche. Wer dann noch das Glück hat mit RTW und second hand vieles zu "erledigen", für das andere MTM oder bespoke brauchen, hat sehr viel Glück und ist zu beneiden. Alle anderen müssen eben noch geduldiger sein, aus wenig noch mehr machen.

Hier noch einige Gedanken zu dem Thema von Thomas Mahon
http://www.englishcut.com/archives/000101.html


BG aus Berlin,

Max


Ein wirklich fundierter Beitrag, der es wert ist, aus der Mottenkiste geholt zu werden.

Übrigens erwartet die Umwelt von einem Mann gar nicht, besonders originell oder täglich abwechselnd gekleidet zu sein, das fällt den Frauen zu. Ein Mann sollte zunächst erst einmal korrekt und "angemessen" gekleidet sein. Das geht mit o.g. Strategie ganz einfach.

Und, da ja viele Sartoralismusextremisten denken, das die diesbezügliche Musik in Italien spielt, old Will Boelke hat da ein paar ganz gute unsartoriale Bespiele geliefert, Simon Comptron auch, grauer Anzug/weisses Hemd/dunkelblaue Krawatte und fertig ist die sartoriale Luzie. Pity Homo ist nicht die Realität. In Mailand beispielsweise kenne ich viele Herren mit mittleren Alter, die mit der gerade beschriebenen Uniform ganz wunderbar aussehen, ohne violette Schnürsenkel oder rote Innenfutter.

Wenn ich verlinken darf: http://www.asuitthatfits.com/offthecuff/the-italian-background/
 
Je größer und internationaler das Unternehmen, desto konservativer die Kleiderordnung. Es ist ein Trugschluß anzunehmen, die Amerikaner wären formloser als die Europäer, im Gegenteil.(....)

Einstecktuch erst ab Senior, kein Schmuck ausser Uhr und Ehering. (...)

Was die anderen machen, sollte dich nicht interessieren, im Zweifel frag deinen Coach. Geh davon aus, das du permanent auditiert und beurteilt wirst, die werden dir weniger sagen als Sie sehen.
(...)
als Berater verkaufst du zunächst dich selbst als Package.

Super Beitrag, so ist es in der Praxis.

Diese Regeln machen ja nicht wir, daher dont shoot the messenger...
 
Werte Gentleman,

im Laufe der Zeit seit meinen letzten Posts in diesem Thread (Ende 2012), habe ich einige strategische und auch so manche Spontankäufe getätigt. Folgende Stücke der Einstiegs- und teils wahrscheinlich auch nicht wirklich notwendigen, aber trotzdem schönen Garderobe, befinden sich nun in meinem Besitz:

Praktika und Berufseinstieg

- ein dunkelblauer Anzug von Theo, der Eigenmarke von Wormland, welcher erstaunlich gut von der Stange passte (so zumindest mein Gefühl) mit einer zweiten Hose.
- ein Paar schwarze Oxfords von Langer & Messmer, Modell Berlin
- ein Paar schwarze Norweger von Prime Shoes
- 3 Hemden (weiß, hellblau, weiß mit dezenten blauen Streifen) von Charles Tyrwhitt
- ein schwarzer Gürtel von C&A, welchen ich gerne bald durch etwas vernünftigeres ersetzen würde
- eine schwarze Aktentasche von Shalimar, für den Einstieg ganz gut weil bezahlbar
- eine weinrote Krawatte mit blauen und weißen Streifen von Michelson's (TK-Maxx)

(Smart) Casual

- ein dunkelgraues Harris-Tweed-Sakko mit grau-blau-weinrotem Gitterkaro ohne Lable, erworben bei Alegro, dem Outlet von LO&GO in Hannover
- eine dunkelrote Tuchhose von Tommy Hilfiger, ist bisher noch auf dem Postweg
- zwei Poloshirts (weiß/hellblau) von Lyle & Scott für den Sommer
- ein Paar braune Winterstiefel von Langer & Messmer, Modell München
- eine dunkelblaue Raw-Denim-Jeans von Nudie Jeans
- ein Country-Hemd im blau-rotem Tattersall-Check von Charles Tyrwhitt
- eine anthrazitfarbene Cordhose von minimum

Warum ich das jetzt poste: Ich überlege, welche Käufe als nächstes Sinn machen. Ich stehe nun im letzten Jahr meines Studiums und weiß noch nicht, wo ich danach arbeiten werde. Auch fehlt mir noch immer ein Großkonzern-Praktikum, welches ich im nächsten Semester jedoch gerne machen möchte. Da ich Psychologie studiere, wird es vermutlich auf Personaldienstleistungen bei einem kleinen, mittelständischen oder großen Unternehmen oder aber auf einen Einstieg in einer eher kleinen Unternehmensberatung hinauslaufen.

Ich schwanke ich im Wesentlichen bei folgenden Entscheidungen, bei denen ich gerne Rat annehme:

1. Kaufe ich einen grauen Anzug wie diesen oder diesen hier oder lieber eine mittelgraue Flanellhose und einen schönen (blauen) Blazer oder etwas ganz anderes?

2. Wie wichtig ist ein gutaussehender Mantel? Ich habe noch einen ziemlich alten, welcher bis auf die Knopflöcher, welche etwas "abgenudelt" aussehen noch gut im Schuss ist (dunkelgrau mit Kreidestreifen) und minimal zu groß ist... sollte ich einen neune Mantel einem zweiten Anzug vorziehen?

3. Brauche ich unbedingt braune Schuhe zu Anfang oder kann ich erstmal bei den zwei Schwarzen Paaren (+ meinen alten Lloyds, die ich noch habe) bleiben. Wenn braune Schuhe, weiß ich nicht ob Brogues oder Plain Derby und dann bräuchte ich auch zwingend einen gut passenden Gürtel. Aber eine zweite Aktentasche möchte ich mir nicht leisten; kann ich da trotzdem meine schwarze nehmen oder erzeugt das Augenkrebs? Und... wie sinnvoll ist für das Frühjahr ein paar Galoschen?

4. Sollte ich mir mehr Gedanken über Krawatten und eine Uhr machen? Ein paar dunkelblaue Binder habe ich noch und noch einen zweiten roten...

5. Weitere Hemden möchte ich mir besorgen, wenn ich sie brauche (also kurz vor Praktikumsbeginn) - hier finde ich angesichts der Sachen, die ich bereits habe, ein weißes Hemd mit blauen Bengalstreifen sinnvoll. Und für den Freizeitbereich nochmal Tattersall, dann aber evtl. nur grau auf weiß.

Ich brauche ein bisschen Orientierung angesichts der vielen Möglichkeiten. Momentan hätte ich große Lust auf einen Blazer, eine Flanellhose, beige Chinos, noch mehr Tweed etc. - der iGent erwacht Stück für Stück in mir xD aber ob diese Idee auch die vernünftigste ist, weiß ich nicht. Studiumsbedingt ist mein Budget bis auf weiteres noch immer knapp, ca. 150€/Monat sind drin + evtl. Weihnachtsgeld und die Möglichkeit, mir kurz vor einem Einstieg in Beruf oder Praktikum noch Geld für nötige Kleidung zu leihen.

Wow, wer bis hierher alles gelesen hat dem bin ich schonmal sehr dankbar :) Ich bin gespannt auf alle Anregungen!
In der Mittagspause habe ich diese schöne Auseinandersetzung gelesen, die nun gute zehn Jahre zurück liegt. Tatsächlich würde mich jetzt die „Fortsetzung“ interessieren, wenn man das so fragen darf/kann.
 
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