Lieber Ludwig,
Du weisst, dass ich sehr oft Deiner Meinung bin, aber hier muss ich doch wiedersprechen. Das bauen von, unbestritten sehr guten, Autos hat mMn nicht viel mit dem schneidern von Anzügen zu tun. Boss war am Boden und wurde von Marzotto (3. grösste Textilfirma der Welt wenn ich nicht irre) zu einem Weltkonzern gemacht und ist seit dem Verkauf auf dem absteigenden Ast. Was der seltsame Belgier (Raf Simmons Anm. d. Red.) aus Jil Sander gemacht hat, spottet jeder Beschreibung. Und da Du ja Audi sehr gut kennst, so wie ich durch meinen Schwiegervater, weisst Du auch, dass die neuen Modelle von einem Italiener (Walter da Silva) designt wurden und das dort trotz regelmässiger Verkaufsrekorde bei der Produktion gespart wird und sehr viel aus Osteuropa zugekauft wird. Und da sind wir auch schon beim Hauptproblem des durchschnittlichen "deutschen Kunden", sofern mir diese Verallgemeinerung erlaubt ist. Es gibt kein Qualitätsbewusstsein für Kleidung oder Essen. Sagen wir einfach für alles, was nicht mit Auto, Haus oder Stereo Anlage zu tun hat. Wir hier sind eine sehr kleine Gruppe, die ihre Eier beim Bauern holt, ihr Fleisch beim Landmetzger, der noch jedes Tier persönlich gekannt hat, den Honig beim Imker, die Handschuhe in der spezialisierten Manufaktur usw... Diese Liste lässt sich für uns hier beliebig verlängern, aber eben nicht für den Durchschnitts-Verbraucher. Dort muss es eben billig sein, schnell gehen und wenn teuer, dann mit Mega Logo! Hinzu kommen mMn noch 2 wichtige Punkte. Wenn ich mir die Auslagen einiger Schneider (soviele kenne ich nun auch nicht) ansehe, dann hat es Oxford sehr gut beschrieben. Diese sind wohl noch im Wirtschaftswunder stehen geblieben. Dann kommen noch die Vielzahl (natürlich nicht alle) an "überaus kompetenten" Verkäufern die alles, nur nichts passendes verkaufen. Die Hose, eine ständige Stolperfalle und die Sakkoärmel gehen gut noch als Handschuhe durch. So wie man es als Kleinkind hatte, die 2 mit einen Strick verbundenen Handschuhe, die man durch die Ärmel führte. Die älteren werden sich erinnern.
Es ist doch auch bezeichnend, dass es so fantastische Geschäfte, wie Michael Jondral weder in Düsseldorf, Hamburg, Berlin oder gar in München gibt. Dort gibt es eben Marken, die per se phänomenal sind, aber eben nur Eingeweihten bekannt. Für Deutschland gilt leider, dass der Prophet im eigenen Lande nichts zählt. Was würden wir Italiener nur mit der Plörre machen, wenn ihr nicht so gerne Prosecco trinken würdet. Wahrscheinlich unsere Autos abbeizen, denn zu was anderes taugt es ja nicht. Auch wird lieber irgendein völlig überbezahlter Champagner getrunken, als ein guter Winzersekt, weil es nicht so "cool" klingt und "billig" anmutet. Natürlich ist das jetzt sehr plakativ ausgedrückt und sehr verallgemeinert dargestellt, aber um davon zu reden, dass die Zeit reif sei, fehlt noch eine Menge Qualitätsbewusstsein. Es geht auch garnicht darum, jetzt auf beleidigtes Kind zu machen und trotzig zu behaupten: Wir deutschen können das auch! So wie bei dem in meinen Augen lächerlichen Versuch, Berlin zur Fashion Hauptstadt zu machen. Natürlich gibt es deutsche Handwerker, die "outstanding" in ihrem Bereich sind, für einen Erfolg auf breiter Front (bitte jetzt nicht die Nazikeule auspacken) ist das Feld noch nicht bestellt. So jetzt zahle ich 9 € in das Phrasenschwein. Dann, wenn sich in jeder Stadt ab 200.000 Einwohnern ein Geschäft wie das von Herrn Jondral erfolgreich hält, dann wird es genug Kunden für deutsche Maßschneiderei geben, vorher nicht.
Zur Verdeutlichung meiner These noch ein Beispiel von dieser Woche. In der Straße, in der ich wohne, stehen sehr viele große Autos vor den Häusern, aber keiner wäre bereit auch nur 300 € für ein komplettes Outfit auszugeben. Wenn die meinen neuen Maglia Schirm gesehen hätten...
Und vom "medialen pushen" eines Handwerkers halte ich auf Dauer auch nicht viel, weil bis jetzt noch jeder, egal ob deutscher oder italiener danach Preistechnisch die Bodenhaftung verloren hat...
Aber auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt und der ist, so hoffe ich, getan...
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Sandro